Wo findet Zukunft Stadt?

Saskia Sassen über globale Städte der Zukunft

Die Städte der Welt werden nicht nur immer mehr – ihr Wandel hat auch gesellschaftliche Folgen, die bislang kaum abzusehen sind. Während die Mittelklasse durch diese „globalen Städte“ zunehmend marginalisiert wird, nimmt deren Potenzial für eine politisch bislang völlig unterschätzte Klasse diskret, aber stetig zu – als Machtbasis der Machtlosen.

Mustafah Abdulaziz, mustafahabdulaziz.com
Der US-amerikanische Fotograf Mustafah Abdulaziz (geb. 1986) ist bekannt für sein Fotoprojekt „Water“, das sich der unmittelbaren Abhängigkeit des Menschen vom Element Wasser widmet.

Zur Person

Saskia Sassen (New York) ist Professorin für Soziologie an der Columbia University. Die Globalisierungstheoretikerin prägte den Begriff der „Global City“.

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Die große, komplexe Stadt, vor allem die globale Stadt, ist das neue Grenzgebiet. Akteure aus verschiedenen Welten treffen hier aufeinander, doch es gibt keine klaren Regeln für ihre Interaktion. Historische Grenzgebiete lagen an entlegenen Rändern kolonialer Reiche, und die Begegnung mit Fremden war geprägt von Gewalt seitens feindlicher Invasoren.

Die heutigen Grenzen verlaufen direkt durch unsere riesigen und chaotischen globalen Städte. Die alten Fronten haben keine Bedeutung mehr: Große Konzerne und mächtige Regierungen haben – sei es durch Kauf oder durch Zwangsmaßnahmen – auf der Südhalbkugel weite Teile des Landes an sich gerissen, um ihre Interessen zu bedienen. Im Zuge dessen verloren Millionen kleiner Landbesitzer ihre Heimat. Ihre letzte Zuflucht sind die großen Metropolen des Globalen Südens und – in geringerem Ausmaß – die des Globalen Nordens. Einfach weil es nicht möglich ist, diese Orte vollständig zu kontrollieren.

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Lebten die Architekten und Denker aus der ersten Generation des Bauhauses heute noch, würde diese Entwicklung im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen? Die meisten würden dies vermutlich verneinen, doch ich teile diese Ansicht nicht. Warum? Weil es sich um einen der bedeutendsten Prozesse handelt, die sich derzeit auf der Welt ereignen: die massive Vertreibung von Millionen und Abermillionen kleiner Landbesitzer. Die brutale Aneignung von Wasser­ und Landrechten ist einer der zentralen Faktoren der Neuinterpretation des urbanen Raumes und des Städtebaus in weiten Teilen der südlichen Regionen der Erde – wenn auch nicht in Europa. Für mich ist es daher unzweifelhaft, dass sich die zukunfts­ und problemorientierte Denkweise des Bauhauses dieser Problematik früher oder später angenommen hätte.

„Durch Vermögenswerte gesicherte Wertpapiere“

Saskia Sassen

Strategisch für die Mächtigen
wie die Machtlosen


Städte sind, so ironisch dies auch scheinen mag, von strategischer Bedeutung für das global operierende Kapital wie auch für die Machtlosen. Die untere Mittelschicht und die Arbeiterklasse im traditionellen Sinn haben in diesen Städten an Bedeutung verloren, da an ihren Leistungen und Fähigkeiten seitens der dominierenden Akteure immer weniger Bedarf besteht oder sie durch Maschinen oder schlechter ausgebildete Arbeiter ersetzt werden. Beide Gruppen verfügen aber noch über gewisse Mittel, die es ihnen erlauben, Häuser als Wohnstätte zu betrachten und nicht nur als Macht­ raum oder als den einzigen Ort, an dem sie ihren Körper niederlegen können, weil das alles ist, was ihnen geblieben ist.

Daraus ergibt sich die Möglichkeit eines neuen Typus von Politik, in dessen Mittel­ punkt eine neue Riege politischer Akteure steht. Städte sind komplexe Systeme. Doch sie sind gleichzeitig auch unvollständige Systeme. Diese Eigenschaften führen zu einer großen Variationsbreite in der Entwicklung urbaner Strukturen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Die Mischung aus Komplexität und Unvollständigkeit begründet die Fähigkeit von Städten, weitaus mächtigere Systeme und Strukturen zu überdauern, die im Gegensatz zu ihnen jedoch starr und in sich geschlossen sind. So kommt es, dass viele Städte den Untergang von Regierungen, Monarchien, dominierenden Wirtschaftsunternehmen einer Epoche und anderen Ausformungen formaler Macht überdauert haben.

Genau darin liegt die Möglichkeit, in Städten etwas auf die Beine zu stellen – das Urbane, das Politische, die Zivilgesellschaft, eine Geschichte. Aufgrund dieser Definition von Stadt komme ich zu dem Ergebnis, dass ein wachsender Teil des dicht bebauten Bodens, wie beispielsweise großflächige Bürokomplexe in Privatbesitz mit einer Reihe von Hochhäusern (die noch dazu von Sicherheitspersonal bewacht werden), lediglich gebaute Dichte darstellt, aber keinen städtischen Charakter mehr besitzt. Auf der anderen Seite kann ein funktionierender Slum sehr wohl die Kriterien einer Stadt aufweisen – und einige von ihnen sind selbst eine Art Stadt, arm, aber zutiefst urban.


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Diese Mischung aus Komplexität und Unvollständigkeit begründet auch die Möglichkeit für die Machtlosen, sich Zugang zur Macht in den Städten zu verschaffen, und dies in einem Umfang, wie es ihnen auf einer Plantage oder in einem Bergwerk nicht möglich wäre, da diese heutzutage hochgradig kontrollierte Räume darstellen. In der Vergangenheit waren Minen und Plantagen Orte, an denen sich die Machtlosen organisieren konnten. Mittlerweile sind es die großen Städte, die den Macht­ losen die Möglichkeit bieten, Geschichte zu schreiben, Politik zu gestalten und Kultur zu entwickeln. Und auch wenn dies nur auf lokaler Ebene, etwa im Rahmen der mehr oder weniger unmittelbaren Nachbarschaft, geschieht, spielt es dennoch eine Rolle. Es ist nicht das System, das diesen Menschen Macht zubilligt, sondern sie erringen eine partielle Autonomie und damit die Chance, auf lokaler Ebene wirtschaftliche, politische und kulturelle Aktivitäten zu entwickeln.

Mustafah Abdulaziz, mustafahabdulaziz.com
Hintergrund des Projekts bildet Abdulaziz’ Interesse an der Verbindung globaler Machtungleichgewichte und deren Auswirkungen auf das menschliches Handeln.

Wenn urbaner Raum
zur Mine wird

In den letzten Jahren beobachten wir eine zunehmend alarmierende Einmischung mächtiger Akteure, die Gebäude auf bloße Vermögens­ werte reduzieren. Ich vergleiche diese Ausbeutung des bebauten Stadtraums mit der Ausbeutung einer Mine.

In ihrer radikalsten Form werden Gebäude auf ihre Funktion als Anlagekapital reduziert, was zur Folge hat, dass ein leer stehendes Gebäude für seine Besitzer oder Investoren mehr wert ist, als wenn es bewohnt oder genutzt würde. Warum ist das so? Weil ein leer stehendes Gebäude leicht in „durch Vermögenswerte gesicherte Wertpapiere“ umgewandelt werden kann – ein mächtiges Instrument der Finanzbranche, mit dem sich außergewöhnlich hohe Gewinne erzielen lassen. Der „Vermögenswert“ kann aus irgendeinem beliebigen Teil des Gebäudes bestehen, wodurch sich eine Vielzahl von Möglichkeiten und Optionen ergibt. Darüber hinaus kann er in dieser Form auf den globalen Finanzmärkten wesentlich leichter verkauft werden als das konkrete Gebäude.
Die derzeit vorherrschende Investitions­-Praxis besteht (noch) darin, ein Gebäude zu kaufen und es in seiner Funktion als Bauwerk für sich arbeiten zu lassen. Dies bietet außerdem die Möglichkeit, Bargeld und andere Einnahmen aus dubiosen Geschäften zu waschen–ein Geschäftsmodell, das weltweit schon seit Langem betrieben wird.

Durch die Zunahme städtischer Flächen, die mit Luxusimmobilien bebaut wer­ den, wird der Anstieg einer stark wachsenden Anzahl von Haushalten mit hohem Einkommen und hochprofitablen Firmen immer sichtbarer. Dieser rapide Anstieg einer relativ großen Klasse reicher Stadtbewohner – ihr Anteil geht weit über das sprichwörtliche eine Prozent hinaus – hat noch in anderer Hinsicht Folgen für den urbanen Raum. Der Wert von Immobilien und Land in den Innenstadtbereichen und ihrer unmittelbaren Umgebung ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen. In diesem Zug ist ein weltweit ganz neuer Markt für Luxusimmobilien entstanden, mit drastischen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der niedrigen Einkommensklassen und zunehmend auch der Mittelschichthaushalte.
Kurz gesagt, die derzeitigen Bedingungen speziell in globalen Städten schaffen völlig neue Machtstrukturen. Das sind nicht nur „wirtschaftliche Entwicklungen“. Dieser Prozess hat tiefer gehende Konsequenzen und bringt unsere bisherigen Vorstellungen davon, was eine Stadt, was der urbane Raum, was Architekturen zur Lebensqualität ihrer Bewohner (und Besucher) beitragen können, ins Wanken.

Von der unteren Mittelschicht
zu den Armen


Während die zahlenmäßig starke untere Mittelschicht zu den Verlierern dieser neuen Entwicklung in den großen Städten zählt, nimmt die Zahl der Haushalte mit geringem Einkommen beständig zu. An ihnen besteht in vielen Bereichen ein hoher Bedarf. Die traditionelle, ehemals wohlhabende Mittelschicht wird zunehmend durch Maschinen, Digitalisierung, Outsourcing, Personalkürzungen im öffentlichen Sektor und andere Maßnahmen und Entwicklungen ersetzt.

Unsere großen Städte werden so immer mehr zu Räumen für die Reichen und die relativ Einkommensschwachen, ja sogar die Armen. Selbst wenn diese an die Ränder der Städte gedrängt werden, entwickeln sich die Viertel der Machtlosen und Armen zu Räumen, in denen sie eigene Ökonomien und Kulturen entwickeln können. Daraus ergeben sich Möglichkeiten, Belange zu artikulieren und Projekte in die Tat umzusetzen. Hier können sich lokale Ökonomien, kulturelle Initiativen und politische Bewegungen herausbilden – alles Aktivitäten, die sich in kleineren, meist von strenger Kontrolle geprägten Städten, die von der Mittelschicht dominiert werden, wesentlich schwieriger initiieren lassen. In den großen Städten haben die Benachteiligten die Möglichkeit, zu Akteuren neuer Prägung zu werden. Diese Städte sind Orte, an denen diejenigen, die über keine formale Macht verfügen, Präsenz zeigen können: in den Vierteln der Reichen, wo sie als Hausangestellte unabkömmlich sind, in den Geschäftszentren, wo sie unverzichtbare Dienstleistungen erbringen, und so weiter. Dadurch wird Machtlosigkeit in der Stadt zu einem komplexen Faktor. Und dies ist von erheblicher Bedeutung. Sie sind dadurch in der Lage, Geschichte zu schreiben, eine eigene Politik zu betreiben, auch wenn ihre formale Macht begrenzt sein mag. Insofern eröffnen die derzeitigen Zustände in den globalen Städten nicht nur Möglichkeiten für eine Neustrukturierung der Machtverhältnisse, sondern darüber hinaus auch funktionsfähige und rhetorische Öffnungen für jene Akteure, die zwar keine Macht, aber doch Projekte besitzen. Einige dieser Möglichkeiten lassen sich als „städtische Befähigungen“ beschreiben, wie ich es in meinem Aufsatz

Mustafah Abdulaziz, mustafahabdulaziz.com
Die brutale Aneignung von Wasser- und Landrechten ist einer der zentralen Faktoren der Neu- interpretation des urbanen Raumes.

Hybride Grundlagen für
disruptive Narrative


Unter diesem Aspekt betrachtet, haben globale Städte eine strategische Bedeutung für diejenigen ohne direkten Zugang zur Macht. Es ergibt sich daraus die Möglichkeit einer neuen Form von Politik, die von einem neuen Typus politischer Akteure ausgeht. Das ist eine Ebene, die ich mit dem Konzept der „städtischen Befähigung“ zu beschreiben versuche. Es geht nicht nur darum, ob man Macht hat oder nicht. Im Falle der von der Macht Ausgeschlossenen stellt die Stadt einen strategischen Ort dar, weil das Politische sich nicht auf das routinemäßige Ausfüllen und Abgeben eines Wahlzettels und ansonsten auf die Unterwerfung unter die Nützlichkeitserwägungen von Konzernen sowie deren Narrative beschränkt, die diese Machtstrukturen unterfüttern.

Der urbane Raum in mächtigen Städten bietet neue, hybride Plattformen, von denen aus gehandelt werden kann. Gleichzeitig gibt es heutzutage noch einen weiteren Typus der Infiltration und Übernahme von althergebrachten Ordnungen und großen Strukturen. Dabei handelt es sich vor allem um die Nationalstaaten, die zunehmend die Kontrolle über Gebiete aus der Hand geben, die früher einmal ihre ureigene Domäne waren.

Dies ist eine wichtige, wenn auch einseitige und nicht immer wünschenswerte Veräußerung. In meinem Buch „Territory, Authority, Rights“ habe ich beschrieben, in welch gigantischem Ausmaß Grundbesitz, Zuständigkeiten und Rechte, die vormals in staatlicher Hand waren, teilweise aus dieser Sphäre herausgelöst und in neue Strukturen eingebunden wurden.

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Ein Resultat, das wir in immer mehr Städten beobachten können, ist das Aufkommen neuer Formen informeller Politik. Ein Beispiel dafür ist eine neue Form der Schaffung von Öffentlichkeit, durch die kritische, das System infrage stellende Narrative verbreitet werden und den Menschen vor Ort eine Stimme verleihen, die bis dahin ungehört blieben. So findet politische Arbeit statt: Sie besteht darin, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen, die den urbanen Raum als Medium begreift, in das bestehende Machtgefüge einzudringen, auch wenn es die Machtstrukturen nicht zu zerstören vermag.
Die Occupy­-Bewegungen, die in Ländern in den verschiedensten Regionen der Welt auftauchten, erregten nur kurzfristig Aufsehen, doch auf längere Sicht waren sie lehrreich und inspirierend, indem sie Ungleichheit explizit formulierten und weiten Teilen der verarmten Mittelschicht, die gemeinhin eher konservativ geprägt ist, einen neuen Blickwinkel eröffneten.

Occupy hat sich zu einer politischen Bewegung entwickelt, deren Schwerpunkt auf der Führungsrolle in der politischen Debatte und der Mobilisierung liegt, ohne notwendigerweise einen Systemwechsel zu postulieren. Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland und der Aufstieg eines siebzigjährigen Sozialisten in den USA, der dennoch sämtliche Altersgruppen und ganz besonders die Jugend ansprach, mögen dafür als Beispiele dienen. Noch tiefer greifend sind die Veränderungen in Bolivien und Venezuela, wo die Veränderungen sogar das Vokabular und die Denkstrukturen der Regierung umfassen, während weniger radikale Veränderungen auch in Peru und Quito deutlich spürbar sind. Was all diese Strömungen – bei allen Unterschieden im Detail und im Ausmaß – gemeinsam haben, ist die teilweise oder vollständige Ablehnung der überkommenen politischen Praxis.

Mustafah Abdulaziz, mustafahabdulaziz.com
Für die von der Macht Ausgeschlossenen stellt die Stadt einen strategischen Ort politischen Handelns jenseits des Ausfüllens eines Wahlzettels dar.

Raum als Medium

Saskia Sassen

Ein neuer Typus urbanen
Charakters?


Diese verschiedenen Elemente, die in Metropolen überall auf der Welt zu beobachten sind, signalisieren die Möglichkeit der Schaffung eines neuen Typus von Urbanität. Der „urbane Charakter“, den ich meine, ist nichts grundlegend Neues. Er hat schon zu verschiedenen Zeiten in Städten an verschiedenen Orten der Welt existiert, doch er war eher dünn gesät. Es ist der urbane Charakter, der sich dadurch auszeichnet, dass für ihn Ethnien, Religion, Aussehen, Ungleichheit oder physische Behinderungen keine bedeutende Rolle spielen. Das antike Bagdad oder Jerusalem waren solche Städte, oder Chicago zu Beginn seiner Industrialisierung um 1900 oder Berlin und Buenos Aires in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Dabei sollen die geschichtlichen und geografischen Besonderheiten, die diese Städte auszeichneten und die zur Herausbildung des von mir so bezeichneten „urbanen Charakters“ geführt haben, nicht ignoriert werden.

Was den urbanen Charakter aus­ zeichnet, ist die Ungezwungenheit im Umgang mit religiösen, ethnischen und materiellen Unterschieden. Das Zusammenleben in einer Stadt kann die Herausbildung eines urbanen Charakters in Bezug auf die Umgebung und das Individuum in Gang bringen und fördern, indem bis dahin distinguierende Charaktermerkmale und Wertekanons zunehmend verwässert werden. Häufig ist es die Notwendigkeit der Bildung neuer Solidargemeinschaften (beispielsweise wenn Städte sich größeren Herausforderungen stellen müssen), die diese Veränderung hervorruft. Der urbane Raum und dabei insbesondere die Stadtzentren können Veränderungen unseres Wertegefüges bewirken, indem wir gezwungen werden, gemeinsam zu agieren, gemeinsam die überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, uns am Arbeitsplatz, in Krankenhäusern und Universitäten mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion oder unterschiedlichen Geschlechts zu arrangieren. Dies kann zu einer Wertschätzung des urbanen Charakters führen, der sich von der individuellen oder von Gruppenidentitäten geprägten Lebensweise kleinerer, in sich geschlossener Ansiedlungen unterscheidet.

Es ist die große, chaotische und leicht anarchische Stadt, die solche Mentalitätswandel ermöglicht – und nicht Gewerbeparks oder abgeschlossene Firmensiedlungen.

Mustafah Abdulaziz, mustafahabdulaziz.com
Fotoprojekt „Water“ – Mustafah Abdulaziz

„Preisgünstiger Wohnraum in hochpreisigen Stadtlagen“

Saskia Sassen

Zurück zum Bauhaus!

Soziale Gerechtigkeit in den städtebaulichen Fokus zu rücken, stellt einen potenziell machtvollen Faktor bei der Gestaltung des urbanen Raumes dar. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass zumindest einige, die das Bau­ haus groß gemacht haben, die heutige Herausforderung des Wohnungsbaus in dieser Richtung angehen würden. Preisgünstigen Wohnraum in hochpreisigen Stadtlagen zu bauen, wird zu einem Statement – einem politischen Statement. Und dieses ist selbst dann nicht aus der Welt, wenn das konkrete Bauprojekt scheitert, sondern es bleibt präsent als eine Möglichkeit oder sogar als eine Notwendigkeit.

In der Stadt als einem komplexen, aber unvollendeten Raum trifft eine Vielzahl von Konfliktlagen aufeinander, die wiederum in ihrer Summe einen Schub in Richtung auf eine neue Werteordnung hervorrufen können. Sie ermöglicht es, dass Menschen mit unterschiedlichen Leidenschaften und fixen Ideen zusammenarbeiten. Doch dies ist in der derzeitigen Situation nicht genug – speziell im westlich geprägten Teil der Welt, was Lateinamerika und den Großteil Afrikas mit einschließt. Die Gründe dafür sind die zunehmende Konzentration von Macht und ein gewisses Erlahmen des sozialdemokratischen Projekts, das über lange Jahre in weiten Teilen Europas ganz gut funktioniert hat, jedoch mittlerweile zunehmend erodiert.

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Es gibt keine einfachen Lösungen. Doch wenn wir uns auf die zukunftsorientierten Aspekte des Bauhauses zurückbesinnen, sehen wir, dass sich die soziale Frage wie ein roter Faden durch dessen Ideengeschichte zieht, und zwar nicht nur als politisches, sondern als städtebauliches Projekt. Dies macht es interessant als Methode der Intervention in Städten, die zunehmend auf die Bedürfnisse und Wünsche der wohlhabenden Klasse hin ausgerichtet und aus­ gestattet werden; in vielen großen Städten machen diese bereits um die 40 Prozent der Haushalte aus.

Dieser Artikel stammt aus der zweiten Ausgabe des Magazins „bauhaus now”.

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[SS 2018; Übersetzung: Kristof Hahn]

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